Störung wird oft nicht erkannt
„Alles, was ich angefasst habe, war ein Fehler“: Wie es ist, mit Ende 30 eine ADHS-Diagnose zu erhalten
ADHS bei Erwachsenen kann Stress verursachen.
© Quelle: pathdoc / stock.adobe/pro psycho
ADHS gilt auch heute noch als Störung bei Kindern, dabei leiden auch Erwachsene noch daran. Aimo Nyland war 39 Jahre alt, als er erfuhr, dass er an der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung leidet. Von einem Leben, das durch eine Diagnose endlich eine Erklärung bekam.
„Bevor wir anfangen, muss ich noch kurz meiner Echolalie ihren Raum geben. Hab nämlich zwischen FB, Käffchen und olfaktorischer Frustration auch noch mal zufällig in ‚Hallo Spencer‘ reingeswitcht, und es überkommt mich gerade die rauschhafte Lust, euch Teile des Inhalts vorzuträllern: Wir rufen dich Galaktika. Vom fernen Stern Andromeda.“
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Es ist ein Blitzlichtgewitter, mit dem Aimo Nyland sein Buch „Skurrilchaotische Existenz ohne Effizienz“ einleitet. Ein Gewitter, das normalerweise unsichtbar bleibt, denn es findet nur in seinem Kopf statt. Der Mann aus Bernau bei Berlin hat eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS).
Der stärkste Reiz gewinnt
Eine hohe Impulsivität, motorische Hyperaktivität und Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit nicht auf den stärksten Reiz zu richten, sind die zentralen Merkmale der Störung. „Die eigentliche Ursache der ADHS ist ein Problem der sekundären Verhaltenshemmung im Gehirn. Die bewusste Priorisierung bestimmter Reize funktioniert nur eingeschränkt“, sagt Johannes Streif, stellvertretender Vorsitzender des ADHS Deutschland. „Das heißt: Der stärkste Reiz setzt sich meist durch.“
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Etwa 5 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland leiden an ADHS. Damit ist sie laut ADHS Deutschland die häufigste psychiatrische Störung im Kinder- und Jugendalter und gilt weitläufig als eine Beeinträchtigung bei Kindern. Ein Trugschluss, denn ADHS wächst sich nicht einfach aus. Bei etwa 60 Prozent der Betroffenen bleiben wesentliche Symptome der ADHS auch im Erwachsenenalter bestehen.
Kaum Diagnosen im Erwachsenenalter
Erkannt wird das allerdings selten. „Kinder, die noch keinen langen Sozialisationsprozess durchlaufen haben, sind viel ungesteuerter in ihrem Verhalten“, sagt Streif. „Die ADHS-Symptome sind daher viel augenfälliger – und werden dementsprechend eher wahrgenommen.“ Wird die Störung also nicht bereits im Kindesalter bemerkt, ist die Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose im Erwachsenenalter relativ gering.
Erst in den vergangenen Jahren hätten die Diagnosen im Erwachsenenalter zugenommen. „Das liegt auch daran, dass es viele Eltern gibt, die beim Diagnoseprozess ihres Kindes festgestellt haben, dass sie unter ähnlichen Symptomen leiden“, sagt Streif.
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Wird ADHS nicht erkannt, kann es schwere Begleiterkrankungen geben
Wird ADHS nicht erkannt, kann es zu schweren Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Sucht kommen, die die Diagnostik wiederum erschweren. Davor warnen Experten in einem Positionspapier aus dem August 2019. Fehl- und Falschbehandlungen führten zu einer Verschlechterung der Symptomatik und Chronifizierung der Begleiterkrankungen, so die Expertinnen und Experten. ADHSler hätten in der Schule, im Job und in Beziehungen oft große Schwierigkeiten.
So ist es auch bei Aimo Nyland. Im Kindergarten eckt er an, weil er lieber meterhoch Geschirr stapelt oder der Waschmaschine beim Schleudern zusieht, als mit den anderen Kindern zu spielen. In der Schule resigniert er vor den Anforderungen der Leistungsgesellschaft. „Als die Struktur kam, da habe ich das Chaos im Kopf erst richtig gemerkt“, sagt Nyland. „Ich war verzweifelt, wenn ich in meinen Rucksack geguckt habe. Alles war immer total durcheinander.“
Er kopiert die Mappen seiner Mitschüler, um überhaupt für Klausuren lernen zu können. Seinen Realschulabschluss schafft er gerade so. Fünf Ausbildungen fängt er an und bricht eine nach der anderen ab. „Alles, was ich angefasst habe, war ein Fehler“, sagt er. Seine Leidenschaft für Musik wird eher skeptisch beäugt als gefördert. „In den Achtzigern galt Kreativität in vielen Familien einfach als brotlose Kunst“, erklärt Nyland sich das.
Keine Störung, die nur unter Kindern auftritt: Aimo Nyland hat mit 39 Jahren seine ADHS-Diagnose bekommen.
© Quelle: Privat/Aimo Nyland
Depressionen und Selbstzweifel
Nach der Schule kämpft er sich so gut es geht als Freiberufler durch. „Alle Menschen, die du triffst, siehst du einfach an dir vorbeiziehen. Job, Familie, Haus. Die Leute verwirklichen ihre Träume“, sagt er. „Und ich denk mir: Okay, ich bin 40 Jahre alt. Aber im Kopf bin ich immer noch zwölf.“
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Auch Freundschaften sind für ihn vor allem eins: schwierig. Der Zugang zu Menschen fällt ihm leicht, die Beziehungspflege ist oft ein unüberwindbares Hindernis. Irgendwann komme der Punkt, an dem Dinge erwartet werden, die für ihn nicht funktionieren. „So ist immer wieder alles zerbrochen“, sagt er.
Jahrzehntelang leidet er unter Depressionen, Selbstzweifeln und Suizidgedanken. Keiner seiner fünf Therapeuten kann ihm wirklich helfen, behandelt werden lediglich Symptome. „Ich hatte immer das Gefühl: Die Welt ist einfach nicht für mich gemacht“, sagt er. „Alles war immer anders.“
Die Diagnose ist ein Befreiungsschlag
Im Videocall merkt man Nyland das Chaos in seinem Kopf nicht an. Doch wenn er davon erzählt, wie er beim Versuch, einen Zugang zur Welt zu finden, immer wieder scheitert, bricht seine Stimme fast. Weniger tief wurde der Graben zwischen ihm und der Welt dann erst vor sechs Jahren. Nach zahlreichen Therapien machte er das, wovon Ärzte eigentlich immer abraten: Er googelt seine Symptome. „Ich bin jahrzehntelang ohne Struktur durch die Welt getingelt und dann kommen da diese vier lächerlichen Buchstaben: ADHS“, sagt Nyland. „Alles hat gepasst. Ich habe fast geweint vor Erleichterung.“
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Ein Arzt bestätigt seine Vermutung: Nyland leidet an einer Kombiform aus ADHS und dem Asperger-Syndrom. Für den damals 39-Jährigen und seine Frau ein Befreiungsschlag. Unter dem Pseudonym Vierbuchstabler bloggt er seitdem in Foren und bei Facebook über ADHS, findet dort eine Gemeinschaft. Aus „Ich bin anders“ wird „Wir sind anders“. Und er schafft etwas, das ihm bisher nicht gelungen ist: Er beginnt mit dem Buch ein Projekt nicht nur, sondern beendete es 2020 auch.
Auch seine lange versteckte Leidenschaft für Musik entdeckt Nyland wieder. Sechs Instrumente hat er sich selbst beigebracht. Tatsächlich ist es gerade das Sortierende, das ihm an der Musik besonders gefällt: „Ich liebe Rhythmen und Melodien. Vieles im Leben macht für mich als Synästhet erst darüber einen Sinn“, sagt Nyland. Aus Angst, dass die Medikamente seine Kreativität zu sehr betäuben, nimmt er weder Ritalin noch Medikinet. Stattdessen geht er wieder zur Psychotherapie.
Traurigkeit und Zuversicht
Was erst mal klingt wie ein Happy End, ist viel mehr ein Dazwischen, ein vorsichtiges Weitermachen. Nyland schwankt, wenn er erzählt, immer wieder zwischen Hadern und Zuversicht. Das tiefe Gefühl, auf dem falschen Planeten gelandet zu sein, hat sich jahrzehntelang eingegraben und ist nicht so leicht abzustreifen. Oder wie er sagt: „Ich hab immer diese leichte Traurigkeit im Nacken.“
Aber wenn er von Musik spricht, werden seine Bewegungen rund, seine Stimme weich. Und es gibt jetzt noch etwas anderes, das ihn antreibt: „Ich will nicht, dass andere das auch erleben“, sagt Nyland. Er will über die Störung aufklären. „Eigentlich können wir ADHSler so viel leisten für die Gesellschaft“, sagt Nyland. Das Problem sei nur der Weg. Denn der bedarf Struktur, Organisation und Durchhaltevermögen. „Das ist für die meisten ADHSler ein No-Go“, sagt Nyland.
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Eine Frage des Leidensdrucks
Auch seinen erfolglosen Therapieweg möchte er anderen ersparen: „Viele Therapeuten kennen das Thema nicht. Es braucht schon einen ganz speziellen Diagnostiker und die Motivation des Betroffenen“, sagt Nyland. Das bestätigt auch Johannes Streif von ADHS Deutschland: „Ein großes Problem ist die relativ alte Ärzte- und Therapeutenschaft in Deutschland. Es gibt immer noch eine Vielzahl von Psychiatern und Neurologen, die von ADHS im Erwachsenenalter nicht viel wissen und dementsprechend nicht erkennen.“
Nicht jeder ADHSler müsste aber auch behandelt werden: „Die Disposition zur ADHS ist eine genetische Disposition für eine Auffälligkeit, die je nach Umgebung mehr oder weniger zutage tritt und deswegen mehr oder weniger Probleme verursacht“, sagt Streif. Entscheidend für die Notwendigkeit einer Behandlung ist also besonders der individuelle Leidensdruck, der je nach Kontext unterschiedlich sein kann.
Aimo Nyland weiß heute: Das strukturierte Leben da draußen ist nicht seine Welt. „Da komme ich nicht mehr rein und das will ich auch nicht. Ich brauche halt meinen Freiraum. Mein Weg ist die Kreativität“, sagt er. Und er will dafür kämpfen, dass auch andere Betroffene ihren Weg finden können – ohne das Gefühl zu haben, sie seien der Fehler.
Dieser Text erschient zuerst am 26. April 2021. Aimo Nyland hat Anfang 2022 sein zweites Buch „Die wahren Stimmen eines „bunten“ Defizits: Betroffene erklären ADHS aus ihrer Sicht“ veröffentlicht.
Author: Melissa Dawson
Last Updated: 1703497082
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